Der Deutsche Friedensrat (DFR) im Gespräch mit Dr. Jon Nasta, Berlin
DFR: Worin bestehen die
Hauptforderungen der Kämpfenden gegen das Assad-Regime in Syrien und
aus welchen Kreisen der syrischen Gesellschaft kommen die
Demonstrierenden?
Dr. Nasta: Die Hauptforderungen der Kämpfenden bestehen zur Zeit mit
der Abtretung dieses Regimes und deren Symbole und Vertreter. Die
Forderungen haben sich mit der Zeit gewandelt, am Anfang, im März,
richteten sich die Hauptforderungen auf Reformen. Nachdem viele Opfer
gefallen sind und viele in Gefangenschaft genommen wurden, hat sich die
Forderung entwickelt, das System muss grundsätzlich geändert werden und
eine neue Übergangsregierung installiert werden. Die Demonstrierenden,
die Aufständischen kommen aus den vernachlässigten Schichten und aus
Gebieten, die vom Aufbau einer Entwicklung entfernt waren. Sie kamen
aus der armen Bevölkerung. Das war der Ausgangspunkt der
Demonstrationen. Aber es schließen sich jetzt mehr und mehr Menschen
aus der Mittelschicht an.
DFR: Worin bestehen die
Hauptforderungen des Nationalen Koordinierungskomitees für den
demokratischen Wandel in Syrien (NCB), dem Sie angehören? Wie setzt
sich das Komitee zusammen? Welche Funktion haben Sie inne?
Dr. Nasta: Die jetzigen Forderungen des NCB bestehen in der
Durchführung der arabischen Liga-Initiative, die besagt, dass Assad
einen Teil seiner Macht an seinen Stellvertreter Farouk al-Sharaa
übergeben soll. Es soll eine Übergangsregierung gebildet werden,
Voraussetzung ist, dass sich die Armee zurückzieht, dass die Gewalt
aufhört, dass die Pressefreiheit verwirklicht wird und dass
Beobachter und die internationale Presse und
Menschenrechtsorganisationen ins Land kommen dürfen. Zur
Übergangsregierung sollen nur Teile des Systems gehören, die sich nicht
mit Blut befleckt haben und die nicht korrupt sind.
DFR: Gibt es innerhalb des Systems,
bestehend aus Parlament, Geheimdiensten und Armee, Unterscheidungen
hinsichtlich ihres Einflusses und ihrer Methoden? Mit wem rechnen Sie
für eine Übergangsregierung?
Dr. Nasta: Farouk al-Sharaa hat sich vom Gewalt-Staatsapparat
ferngehalten, man sagt ihm nicht nach, dass er korrupt war, aber es
gibt auch andere Persönlichkeiten. Im System sind wenige, die die
Voraussetzung haben. Nicht alle in der Armee waren an der Unterdrückung
des Volkes beteiligt, es gibt welche, die nichts mit der
Niedermetzelung der Demonstranten zu tun haben. Ich bin im Zentralrat
des Koordinierungskomitees, hier äußere ich meine persönliche Meinung.
DFR: Nochmal zu den Forderungen des
NCB und ihrer Durchsetzung …
Dr. Nasta: Ich wiederhole: wir unterstützen die Initiative der
arabischen Liga: Abtretung der Macht, Übergabe an seinen
Vizepräsidenten, Bildung einer nationalen Einheitsregierung. Aber
vorher müssen bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden: Abzug der
Armee von den Straßen, Aufhören der Gewalt, Freilassung der politischen
Gefangenen; ehemalige Verbrecher müssen vor Gericht gestellt werden;
ausländische Beobachter und Kontrolleure der arabischen Liga müssen ins
Land, damit es nicht bei Versprechungen Assads bleibt. In Wirklichkeit
hat er nichts getan, das Morden der Zivilbevölkerung geht weiter. Wir
haben laut UNO 6000 Tote, über 15.000 Flüchtlinge, über 62.000
Gefangene. Insgesamt wurden in dieser Zeit 600.000 Menschen verhaftet
und wieder frei gelassen, weil es an Gefängnis-Kapazitäten fehlt.
Wir sind gleichzeitig dagegen, dass ausländisches Militär sich
einmischt. Wir sind grundsätzlich gegen Gewalt. Wir sind gegen die
religiösen Spaltungen, die zur Anheizung von Bürgerkriegen führen. Es
besteht die Gefahr, dass der Bürgerkrieg eskaliert, obwohl dies bisher
nicht der Fall ist, aber Anfänge sind da.
DFR: Kann man in dieser bedrohlichen
Situation noch mit friedlichen Lösungen rechnen? Sehen Sie eine
Kriegsgefahr und dass es zu einer libyschen „Lösung“ kommen kann? Wer
würde diese libysche Lösung im In- und Ausland befürworten?
Dr. Nasta: Wir standen immer vor dieser Gefahr. Das NCB ist dagegen,
aber es gibt andere Kreise, die von Anfang an geschrien haben, die NATO
soll her oder ein internationales Bündnis soll die Situation
militärisch beenden. Wir waren immer dagegen. Aber Kreise um den
Syrischen Nationalrat (SNC) wollen dies. In der Opposition sind drei
Hauptkräfte: das NCB, der Syrische Nationalrat (SNC) und der
Kurdische Nationalrat (KNC) , der vor 2 Monaten entstanden ist.
Der Syrische Nationalrat wandte sich an den Sicherheitsrat der
UNO und er ist enttäuscht über die Haltung Russlands und Chinas. Jetzt
verlangen sie eine Koalition von 70 Ländern, sie sollen ohne Mandat der
UNO handeln. Sie folgen einem Vorschlag von Sarkozy, den dieser
kürzlich gemacht hat.
Wir bauen auf die Köpfe des Volkes. Wir haben das Vertrauen, dass sich
der Kampf auf mehr und mehr Kreise ausdehnt, besonders in Damaskus und
Aleppo, dass die Menschen mehr zum Streik, zum Generalstreik und zum
zivilen Ungehorsam greifen. Wir hoffen, dass Teile des Systems selbst
aufgeben und auf die Seite des Volkes übergehen. Das wäre optimal.
Sonst besteht die Gefahr eines Bürgerkriegs, was auf unserem
Territorium nicht fremd ist. Es passierte im Irak, 15 Jahre lang im
Libanon. Wir wollen, dass dieses Schicksal unserem Volk erspart bleibt.
DFR: Sehen Sie durch das Veto
Russlands und Chinas eine Chance, dass die Regierung Assads zu weiteren
Reformmaßnahmen greift? Sehen sie im Veto die Verhinderung einer
möglichen Intervention?
Dr. Nasta: Wir haben schon seit Jahren die Hoffnung aufgegeben, dass
sich das Regime reformiert. Das Regime hat nichts gelernt aus der
Situation in Ägypten, Tunesien und Libyen. Es ist unfähig sich zu
wandeln ohne Druck von außen. Deshalb begrüßen wir die Maßnahmen zur
Schließung der Konten im Ausland - ohne dass die Bevölkerung darunter
leiden muss. Wir sind nicht für Blockaden, die das Volk treffen, die
Hunger und Elend mit sich bringen. Aber das System ist schon lange
nicht mehr fähig, sich zu reformieren und das ist die Meinung von uns
allen. Assad kündigt an, eine neue Verfassung zur Abstimmung zu
stellen. Das Problem besteht darin, dass das System von Geheimdiensten
kontrolliert wird und deshalb keine Hoffnung besteht, dass Kompromisse
geschlossen werden.
Das Veto von Russland und China beurteile ich positiv. Ich meine,
dass die USA und Europa nicht in der Lage sind eine militärische Lösung
in Syrien durchzuführen aus folgenden Gründen: Sie sind zur Zeit mit
der Wahl in den USA und Frankreich beschäftigt und es fehlen die
ökonomischen Voraussetzungen auf Grund der Finanzkrise des
kapitalistischen Systems. Deshalb war es auch eine Illusion von manchen
Kreisen danach zu rufen. Die russischen und chinesischen Vetos haben
etwas im internationalen Rahmen verändert. Es ist in der Welt eine neue
Lage entstanden. Die USA ist nicht mehr die alleinige Macht, die die
Welt beherrscht. Seit Auflösung des sozialistischen Lagers sind wir nun
in eine multipolare Welt eingetreten. Aus der Beseitigung der
unipolaren Welt eröffnen sich neue Möglichkeiten für die Völker. In
diesem Sinne sehe ich die Vetos als positiv an. Zur Zeit Libyens hatte
sich das noch nicht so heraus kristallisiert. Russland und China haben
die Verwendung der Resolution falsch eingeschätzt, denn es war die Rede
vom Schutz der Zivilbevölkerung und nicht der Angriff auf militärische
Ziele.
DFR: Wie weit hat der NCB in Syrien
und im Ausland Fuß gefasst?
In Syrien, im arabischen wie im kurdischen Teil, ist die Spaltung der
Opposition zwischen dem Syrischen Nationalrat und der NCB
Ausdruck einer unterschiedlichen politischen Meinung. Jeder sieht die
Zukunft Syriens anders. Wir sind uns alle einig, dass das System
beseitigt werden soll, es ist ein großes Hindernis in der Entwicklung,
der Demokratie und der Menschenrechte. Die Regierung hat kein
politisches Programm außer ihrer Machterhaltung und das Sammeln der
Reichtümer. Die Kräfte im NCB sind weiterhin für einen Kampf gegen
zionistische Ziele, für eine arabische Einheit, für den Weltfrieden und
eine gesellschaftliche Gerechtigkeit, d.h. dem Verteilen von Gütern
unter sozialen Merkmalen. Die andere Seite (Syrische Nationalrat) denkt
nicht daran, weil sie Vertreter rechter Kräfte sind. Diese Spaltung
entspringt politisch unterschiedlichen Richtungen. die von Anfang an da
waren und auch bleiben werden. Die Kreise um den Syrischen Nationalrat
wollen sich verbinden mit Saudi-Arabien, den reaktionären arabischen
Staaten wie Quatar, zum Teil Marokko. Sie wollen uns aufzwingen mit
ihnen in einem Pakt gegen Iran, Hisbollah usw. zu kämpfen. Die syrische
Revolution darf nicht dazu führen ein Bündnis gegen den Iran zu bilden.
Wir bejahen einen arabischen Plan, aber keinen
amerikanischen/zionistischen Plan, auch nicht den iranischen Plan. Wir
sind selbstverständlich gegen das militärische Eingreifen gegen den
Iran. Wir sind gegen die Kriege, die die USA und der Westen führt und
plant. Das kann ein Brandherd werden von Afghanistan bis Palästina. Man
weiß nicht, welche Folgen das hat, womöglich eine nukleare Katastrophe
mit Verstrahlungen der Bevölkerung auf allen Seiten.
DFR: Wie kann man vom Ausland
her solche Forderungen stellen, die nicht als Einmischung in die
inneren Angelegenheiten betrachtet werden?
Dr. Nasta: Der Begriff „Nichteinmischung“ in der heutigen Welt ist
überflüssig. Es gibt keine Grenzen, wo fängt die Einmischung an, wo
hört sie auf. Wir verlangen natürlich, dass die Gewaltanwendung seitens
des Regimes aufhört, wir verlangen von der Außenwelt, dass Beobachter,
Journalisten und andere Menschen und Organisationen die
Sicherheitskräfte in Schranken hält. Wir verlangen, dass die arabische
Lösung, die arabische Liga-Initiative ihren Plan verwirklicht und
hoffen dabei auf internationalen Druck der öffentlichen Meinung und des
fortschrittlichen Lagers der Welt.. Die antiimperialistischen Kräfte,
die Kräfte, die gegen Krieg sind, sollen sich von der Illusion
verabschieden, dass das syrische System eine Widerstandskraft gegen die
Amerikaner und Israelis ist. Es hat im Irak-Krieg mit den Amerikanern
kooperiert, in Hafar AlDFR: Batin (Stadt in Saudi
Arabien 70 km von der kuwaitischen Grenze und 90 km von der
Irakischen Grenze entfernt. Die Syrische Arme hat sich in den Zweiten
Golfkrieg 1991 mit 17.000 Soldaten und ein Panzerdivision beteiligt.)
Es hat die fortschrittlichen linken Kräfte im Libanon 1976
niedergeschlagen. Sie haben immer wieder den Palästinensern geschadet
und gespalten, so dass die revolutionäre Bewegung geschwächt wurde. Die
Baath-Partei hat alle ihre Prinzipien verraten. Seit 20 Jahren spricht
keiner mehr von einer arabischen Einheit, keiner mehr davon, dass es
sozialistisch ist. Syrien wurde seit 12 Jahren rekapitalisiert und
liberalisiert. Es gab noch nie so viele Arme und gleichzeitig wenige
sehr Reiche. Die Mittelschicht verschwand. Früher war der Schulbesuch,
die medizinische Versorgung und die Hochschulen kostenlos. Heute haben
wir mehr Privatschulen als staatliche. Es gab eine Friedhofsruhe; die
Opposition kam ins Gefängnis.
DFR: Was ist mit der Gewaltanwendungen
derer, die gegen Assad kämpfen, aber die auch vom Westen möglicherweise
aufgestachelt und benutzt werden, um eine Intervention vorzubereiten
und zu legalisieren?
Ein großer Teil der Bevölkerung hat sich nicht entschieden. 90% der
Bevölkerung sind mit dem System nicht zufrieden. Sie wollen eine
Veränderung, d.h. sie wollen nicht mehr so leben wie früher. Das
Bündnis zwischen Militärs, Finanzkreisen, Händlern, Reichen und
autokratischen Kreisen der Wirtschaft zusammen mit den
Sicherheitskräften hat den neoliberalen Weg eingeschlagen mit
Privatisierungen wie bei den Häfen von Tartus und Latakia und andern
Betrieben des öffentlichen Sektors.
Ich bin gegen die Militarisierung des Widerstandes; Teile der
Bevölkerung werden aber vom System dazu gezwungen. Ich bin gegen jede
ausländische Einmischung.
DFR: Welche Hilfe könnte den syrischen
Opfern gegeben werden mit ihrer Hilfe?
Dr. Nasta: Politische Unterstützung und praktische Unterstützung
Humanitäre Hilfe durch Organisationen wie medico international,
medizinische Hilfe, auch durch GeldDFR: Spenden, weil die Medikamente
in Syrien viel billiger sind als hier…
Das Interview wurde Anfang Februar 2012 geführt.
Dr. John Nasta wurde 1939 in Homs/Syrien geboren, studierte Medizin in Leipzig und war Chefarzt für Anästhesie und Intensivmedizin. Er ist Vorsitzender des Forums Arabischer Kultur in Berlin e.V. und Zweiter Vorsitzender der Stiftung Ibn Rushd Fund e.V.